Erfahrungsbericht über einen Antrag bei der Kirche


Ich möchte mit diesem Bericht Mut machen, Entschädigungen anzufordern. Mir hat ein solcher Bericht gefehlt, als ich angefangen habe, den Antrag zu stellen, und er hätte mir einiges an Ängsten genommen.

Ein paar Worte zu mir: Ich habe die sexuellen Übergriffe nicht während der Verschickung erlebt, sondern danach, weil ich bedingt durch die Verschickung verhaltensauffällig wurde und in psychologische Behandlung kam. Der Psychologe hat mit mir dann eine sehr be- und absondere „Spiel“therapie durchgeführt. Das Ganze fand in einer Einrichtung des Caritasverbands statt, daher konnte ich einen Antrag auf Entschädigung bei der Kirche stellen.

Zunächst bekam ich über die Initiative eine Ansprechperson vermittelt - schon wieder Caritas. Gegen Mitarbeiter der Caritas hege ich starke Vorurteile, da sowohl die Verschickung als auch die sexuelle Gewalt über Caritasmitarbeiter kam. Vom Kopf her ist mir natürlich klar, dass nicht alle Mitarbeiter schlecht sein müssen und eine sehr gute Erfahrung machte ich bei dieser ersten Ansprechperson. Eine Frau, die sehr ausführlich und einfühlsam auf meine Anfrage reagierte. Sie fragte mich, wo der Übergriff passiert sei und verwies mich dann an zwei zuständige Personen. Bis zu diesem Zeitpunkt ging es mir noch gar nicht um Geld, das Thema Entschädigung war zwar schon in meinem Hinterkopf, aber noch nicht so wirklich aktuell. Daher fühlte ich mich wie vor den Kopf gestoßen, als ich von dieser zweiten Stelle, bei der ich nur kurz angefragt habe, welche Hilfestellungen möglich sind, eine sachliche Mail mitsamt Antragsformular und Verfahrensordnung zugesendet bekam. Ich wusste erst gar nicht, wie ich darauf reagieren sollte, weil ich als Antwort etwas ganz anderes erwartet hatte, mehr eine Aufstellung von Hilfsmöglichkeiten. Darin hätte natürlich auch die Möglichkeit eines Entschädigungsantrags stehen können, ohne ihn gleich anzuhängen. Ich habe die Kritik der Ansprechperson, einem Psychologen, mitgeteilt und es folgte eine Entschuldigung mit wesentlich einfühlsameren Worten und eine Einladung nach Trier samt Kostenübernahme für mich und eine Begleitperson sowie der Vorschlag, das Weitere doch besser telefonisch zu besprechen. Mit fremden Menschen zu telefonieren und dazu noch über so ein Thema - da gibt es bei mir eine große Hemmschwelle. Deswegen hat es erst mal zwei Wochen gedauert, bis ich den Mut dazu hatte. Das Telefonat empfand ich dann aber sehr angenehm und ich teilte der Ansprechperson mit, dass ein Gespräch in Trier aus zwei Gründen für mich nicht realisierbar ist: Entfernung und eine ausgewachsene Sozialphobie. Mein Vorschlag, stattdessen eine Videokonferenz zu machen, stieß aber auf offene Ohren. Wir verblieben so, dass ich erst mal den Antrag ausfülle und wir dann weiter schauen.

Das Antragsformular hat es in sich, da geht es ans Eingemachte. Es werden viele Fragen gestellt, die meisten davon sind einfach zu beantworten, aber es gibt auch welche, die man im Freitext beantworten soll, u. a. der Tatvorgang. Mir war nicht klar, ob ich das schaffe und so habe ich mich erst mal nur mit den einfachen Fragen beschäftigt. Für den Tathergang habe ich Monate gebraucht. Immer mal wieder ein Satz. Mir war es wichtig, es ausführlich zu machen - entweder richtig oder gar nicht. Einfach war das nicht, ich habe über die Tat nie in meinem Leben gesprochen oder mich mit ihr gedanklich beschäftigt. Da kommen Gefühle hoch wie Ekel, Wut, Angst, Scham… alles mühsam verdrängte Emotionen, die man gar nicht haben will.
Als ich fertig war, habe ich Kontakt mit einem Frauennotruf aufgenommen, sie machen Beratung bei solchen Anträgen. Das Gespräch hat mir gut getan und meinen Antrag auch noch etwas verändert. An einer Stelle soll man nämlich eintragen, welche Folgen das Erlebte hatte und auch heute noch hat. Da standen bei mir nur wenige Punkte. Mir fiel nichts ein. Warum? Weil ich mein ganzes Leben um meine Defizite herum gebaut habe: Mit einer Sozialphobie lebt es sich prächtig, wenn man abgelegen und ohne Nachbarn lebt. Die Unfähigkeit in einem Angestelltenverhältnis zu arbeiten, lässt sich mit Selbständigkeit lösen und Beziehungsunfähigkeit mit Alleineleben. Ich denke darüber nicht oft nach, es ist wie es ist. Aber wenn ich darüber nachdenke, dann weiß ich auch, dass mein Leben ohne diese Erfahrung sehr sehr anders verlaufen wäre. Im Grunde meines Herzens bin ich nämlich ein geselliger Typ und keiner mit 1000 Ängsten, die mich daran hindern, das zu tun, was das Herdentier Mensch für gewöhnlich so tut.
Wenn man so einen Antrag ausfüllt, kann ich daher dazu raten, jemand drüber schauen zu lassen, der sich nüchtern damit befassen kann und Erfahrung hat. Sich bei Erfolg mittels Spende erkenntlich zu zeigen, finde ich angemessen.
Des Weiteren habe ich meine ehemalige Hausärztin angeschrieben, ob sie mir ein Gutachten schreiben kann. Sie ist eine besondere Ärztin, eine die zuhört und in einen hineinblickt. Erst später habe ich erfahren, dass sie auch eine psychologische Ausbildung hat.
Nun vergingen noch mal zwei Monate, bis ich die Traute hatte, den Antrag abzuschicken. Das geschah schließlich in einer Samstagnacht und hat mich erst mal sehr erleichtert. Den Schreibtisch frei zu machen, all die eingescannten Papiere in den Ofen zu befördern, die Gedanken aus dem Kopf zu verbannen.
Am nächsten Tag - es war späterer Sonntagabend - klingelte mein Telefon. Es war der Psychologe, der den Antrag bearbeitet. Ich hatte um Bestätigung des Eingangs gebeten, dachte aber eigentlich mehr an eine kurze Nachricht per Mail. Das Gespräch war gut, aber Tag und Uhrzeit fand ich befremdlich. Auch am Folgetag kam ein Anruf zu einer für meine Begriffe unzivilen Abendzeit. Es ging um mögliche Termine für die Videokonferenz. Eine Bekannte, der ich das erzählte, meinte lachend: „Typischer Fall von Homeoffice-Syndrom, die Leute verlieren jegliches Gefühl für Wochentag und Tageszeit.“ Ok, plausibel, das bremste mein Gedankenkarussell. Nun standen drei Termine zur Auswahl, die mit einer Anwältin, die ebenfalls daran teilnimmt, abgesprochen werden mussten. Ich sollte am Folgetag informiert werden, welche Zeit bei ihr passt. Ab dem frühen Abend war ich in Hab-Acht-Stellung, aber das Telefon klingelte nicht. Auch am Folgetag nicht. Ich schlief schlecht, unruhig und traumreich, in jedem Traum kam die Konferenz in sämtlichen möglichen und unmöglichen Variationen vor. Am 3. Tag hielt ich es nicht mehr aus und schickte eine Mail. Ein paar Stunden später meldete sich der Psychologe per Anruf und schlug vor, den Termin auszusetzen, weil er den Eindruck hat, dass ich psychisch nicht dazu in der Lage wäre. Mir fiel ein Stein - nein, ein Felsbrocken vom Herzen. Das Telefonat endete mit den Worten, dass ich mich jederzeit bei ihm melden kann, wenn ich Gesprächsbedarf habe.

Alles in Allem war der Antrag extrem belastend, aber ich fand den Umgang sehr fair und einfühlsam. Selbst die erste Mail mit dem Antrag fand ich beim nochmaligen Durchlesen zu einem späteren Zeitpunkt nicht mehr so schlimm, wie ich sie anfangs empfunden hatte. Man ist einfach in dieser Situation arg dünnhäutig.

Der Antrag wurde nach gut einem halben Jahr bewilligt. Wenn ich bedenke, wie viel finanzieller Verlust durch die sexuelle Gewalt entstanden ist (schlechte Schulbildung, keine Ausbildung, eingeschränkte Arbeitsfähigkeit infolge der Traumatisierung), ist die Summe lächerlich. In Anbetracht der möglichen Spanne zwischen 0 und 50.000€ empfinde ich den mir bewilligten Betrag aber angemessen.

(Verfasser möchte anonym bleiben)